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   Vor ein paar Wochen fuhr ich mit einer kleinen Gondel zur Alp Sigel hinauf. Mein Ziel war der Seealpsee auf der anderen Seite des Bergkammes. Karte und Wegweiser versprachen einen Weg dorthin.

   Ich lief gemütlich auf sonnigen Almboden das Tal zurück, rechts begleitet von Felsen, die die Sicht nach Norden versperrten, links weit unter mir das Plattenbödeli und der Sämtisersee, die noch im morgendlichen Schatten lagen. Mir kam spontan das biblische «finstere Tal» in den Sinn.

    Das Gelände war steil, von der Felslücke, durch die der Weg verlaufen soll, nichts zu sehen. Doch dann endlich wichen die Felsen etwas zurück, und noch ein paar Meter weiter stand ich plötzlich vor ihr: der Bogartenlücke! Die Felswände endeten abrupt und setzten sich erst in etlichen Metern Entfernung wieder fort, wie eine riesige Zahnlücke.  Die Felsen der Ebenalp lagen direkt vor meinen Augen, der Blick auf das Appenzeller Hügelland bis hin zum Bodensee war atemberaubend!

   Der Weg führte an der tiefsten Stelle der Felslücke hindurch, hin zu einer Alp. Dort, wo die flache Wiese in einen steil abfallenden Wald überging, stand ein Bergkreuz am Wegrand. Hier tat sich auch der Blick nach Westen auf: das Säntismassiv und tief unten im Tal der Seealpsee!

   Während des Abstiegs durch den Wald sinnierte ich über diesen Weg und mir drängte sich der Gedanke auf, dass es in unserem Leben manchmal ähnlich ist:

Ein schmaler Pfad durch steiles Gelände, der zu nichts zu führen scheint, Felsen die Sicht und Überblick verwehren, das finstere Tal als einzige Möglichkeit, falls die Felsen nicht doch noch wider Erwarten Durchlass gewähren…Wo man darauf vertrauen muss, dass Karte und Wegweiser verlässlich sind.

    Und dann, ziemlich plötzlich und wie ein Wunder verwandelt sich der Weg unter den Füssen in einen gemütlichen und führt einen zu einer Aussicht, mit der man überhaupt nicht mehr gerechnet hat!

    Ich wünsche allen bedrängten Menschen, dass sie so ein Wunder erleben dürfen!

Text und Bild: Brigitte Herzog