
Hans im Glück
Seit meiner Kindheit kenne ich dieses Märchen! Ich mochte es aber schon damals nicht, denn die Konfrontation mit der Dummheit dieses Kerls hat mich jedes Mal aufs Neue erschüttert!
Dieser Hans erhält als Lohn für 7 Jahre Arbeit einen Klumpen Gold von seinem Meister! Auf seinem Weg nach Hause zu seiner Mutter tauscht er diesen ein, weil es ihm im Moment richtig und erstrebenswert erscheint, diese schwere Bürde loszuwerden. Immer wieder macht er Tauschgeschäfte und jedes Mal hat er das Gefühl, er habe einen Vorteil dabei. Schliesslich tauscht er eine Gans gegen einen Wetzstein zum Messer- und Scherenschleifen.
Durch das Schleppen dieses Steins erschöpft und durstig, trinkt er an einem Ziehbrunnen Wasser. Dabei fällt der Wetzstein in den Brunnen. Hans jubelt: »Was bin ich doch für ein Glückspilz! Frei von aller Last kehre ich heim zu meiner Mutter!»
Märchen sind alte Erzählungen, die eine wesentliche Wahrheit in einer für Kinder – möglicherweise - verständlichen Art enthalten. Die Weisheit des «Hans im Glück» habe ich aber erst kürzlich begriffen: Denn ganz spontan fiel mir der Begriff «Mutter Erde» dazu ein…Die Geschichte des Hans scheint eine Beschreibung unseres Lebens zu sein!
Am Anfang verspricht uns das Leben einen Klumpen Gold: Alles ist möglich, alles scheint glitzernd und golden vor uns zu liegen, jeder Weg führt zu Glück und Wohlstand. Aber schon bald muss man Abschied von dieser Vorstellung nehmen, denn das Leben bringt uns - manchmal ziemlich unsanft, so wie Hans, der vom Pferd abgeworfen wird - auf den Boden der Wirklichkeit. Im Lauf unseres Lebens müssen wir immer wieder von unseren Vorstellungen, Ansichten und Wünschen Abstriche machen. Wir werden bescheiden und brauchen immer weniger, um glücklich sein zu können….
Und vielleicht sind wir am Ende unseres Lebens tatsächlich so weit, dass wir den letzten Wetzstein, der uns so ermüdet und durstig macht, ohne Bedauern loslassen und jubeln können: « Was bin ich doch für ein Glückspilz! Frei von aller Last kehre ich heim zu meiner Mutter Erde!» Oder im christlichen Sinn: Heim zu Gott.
Text und Bild: Brigitte Herzog